Meine Meinung!
 

 Lernen und Lehren

21. Oktober 2009

Eines meiner Hobbies ist, Nachhilfeunterricht zu geben, vorzugsweise in Mathematik, manchmal auch in Physik.

In diesem Artikel möchte ich darüber schreiben, welche Meinung ich mir über den Vorgang und die verschiedenen Aspekte des Lehrens und Lernens gebildet habe, einfach so oder für potentielle Nachhilfeschüler, um klar zu machen, was ein Lehrer - egal ob in der Schule oder bei der Nachhilfe - bestenfalls leisten kann, und welch großer Anteil der Arbeit nur vom Schüler selbst ausgeführt werden kann. Leider gibt es außer Augen und Ohren, manchmal noch die Hände zum buchstäblichen "Begreifen", keinen wirkungsvolleren Einfüllstutzen für den Lernstoff.

Ich sehe drei Aspekte des Lernens mit folgenden Zielen:

  • Verstehen
  • Wissen
  • Können

Jedem dieser Ziele kann man eine Tätigkeit zuordnen, mit deren Hilfe das Ziel erreicht werden kann:

  • Verstehen durch darüber nachdenken, erklärt bekommen, darüber diskutieren, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, Zusammenhänge herstellen.
  • Wissen durch Auswendiglernen fertiger Ergebnisse oder Fakten.
  • Können durch Üben von Methoden und Anwenden des Verstandenen oder Auswendiggelernten auf Probleme und Aufgaben.

Außerdem hat jeder dieser drei Aspekte eine Funktion im Hinblick auf die spätere Nutzung des Lernstoffs:

  • Verstehen ist erforderlich, um entscheiden zu können, ob das Gelernte zur Lösung einer Aufgabe geeignet ist, und um die Beziehung zwischen Problem und Lösung herzustellen, also den Ansatz zu finden.
  • Wissen erleichtert die Arbeit dadurch, dass einmal gewonnene Ergebnisse schnell abrufbar sind und nicht jedes Mal neu hergeleitet werden müssen. Neben dieser Komfort-Funktion ist Wissen aber auch erforderlich, um bei der Suche nach Lösungsansätzen (s.o.) präsent zu haben, welcher Art die Ergebnisse sind, die ein bestimmter Lernstoff liefern kann, und die Eignung für das aktuelle Problem bewerten zu können.
  • Können bedeutet, die "handwerkliche Arbeit" vom Formulieren des Ansatzes bis zur Lösung zügig und fehlerfrei durchführen zu können, die "Fallstricke" zu kennen und diejenigen Punkte eines Verfahrens zu beachten, auf die es ankommt.

Meiner Meinung nach ist das Verstehen der wichtigste und grundlegende Teil des Lernprozesses, weil ohne ihn Wissen und Können nur auf reine Reproduktionsleistung anwendbar sind. Zugleich ist es auch der Teil, bei dem ein Lehrer am wirkungsvollsten und notwendigsten ist, weil er erklären, von Bekanntem ausgehend herleiten und Zusammenhänge herstellen kann.

Beim Auswendiglernen und Üben zur Erlangung von Wissen und Können beschränkt sich die Funktion des Lehrers auf eine sinnvolle Auswahl der Gegenstände (welche Formeln sollte der Schüler wissen, an welchen Aufgaben üben) und Kontrolle der Ergebnisse.

Ich will diese Dreiteilung in Verstehen, Wissen und Können noch am Beispiel der Mitternachtsformel zur Lösung quadratischer Gleichungen verdeutlichen:

Diese Formel heißt so, weil man sie aufsagen können sollte, selbst wenn man um Mitternacht aus dem Tiefschlaf gerissen wird.

Die Ausgangslage ist eine quadratische Gleichung folgender Form:

ax² + bx + c = 0

Gesucht werden die Werte für x, die diese Gleichung lösen. Sie berechnen sich zu:

Mitternachtsformel

Das Verstehen würde hierbei zum Beispiel beinhalten:

  • Bei dem zu lösenden Problem, das auch als Text formuliert sein kann, handelt es sich um eine quadratische Gleichung, d.h. die höchste vorkommende Potenz der Unbekannten ist 2.
  • Der Graph einer quadratischen Funktion ist eine Parabel.
  • Es geht darum, die Stellen zu finden, an denen diese Parabel die x-Achse schneidet ("Nullstellen"), deswegen setzt man den Funktionswert auf Null.
  • Es kann zwei, eine oder keine Nullstelle geben, je nachdem wo die Parabel liegt.
  • In der Mitternachtsformel wird die Zahl der Nullstellen durch den Wurzelausdruck bestimmt.
  • Man kommt von der Ausgangsgleichung auf die Mitternachtsformel, indem man eine quadratische Ergänzung (b²/4a²) und die erste binomische Formel anwendet.
  • Man kann die Ausgangsgleichung - wie jede Gleichung - umformen, indem man so lange auf beiden Seiten die selben Rechenoperationen ausführt, bis die gesuchte Unbekannte auf einer Seite alleine steht.
  • ...

Wissen bedeutet in diesem Beispiel, die Formel und ihre Ausgangsgleichung (!) auswendig wiedergeben zu können.

Können umfasst:

  • Ein möglicherweise als Text beschriebenes Problem in eine quadratische Gleichung umsetzen zu können.
  • Die quadratische Gleichung in die Form der Ausgangsgleichung zu bringen.
  • Die Parameter a, b, c richtig zuzuordnen und in die Mitternachtsformel einzusetzen.
  • Den so gewonnenen Ausdruck richtig berechnen zu können.
  • Die Lösung(en) auf Plausibilität beurteilen zu können.

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt, der zwar nicht unmittelbar Bestandteil des Lernprozesses aber dennoch für seinen Erfolg maßgeblich ist und der außerdem von einem Lehrer erheblich beeinflusst wird - positiv wie negativ: Das Wollen, die Motivation.

Wir haben oben schon gesehen, dass das Lernen mit allen Facetten einen erheblichen Aufwand des Schülers erfordert: Nachdenken, zuhören, auswendig lernen, üben, ...

Diesen Aufwand kann ein Schüler nur dann betreiben, wenn er die erforderliche Motivation dazu hat. Diese zu erzeugen und/oder aufrecht zu erhalten, ist die wichtigste und zugleich schwierigste Aufgabe des Lehrers. Wie sie zu bewerkstelligen ist, dazu wurden schon viele dicke Bücher geschrieben. Ich will mich deshalb hier auf ein paar Stichworte beschränken:

  • Das Thema muss für den Schüler relevant gemacht werden. Es muss einen Bezug zu seinem Leben haben und der Nutzen, der über gute Noten hinausgeht, muss für ihn unmittelbar erkennbar werden.
  • Die Anforderungen müssen angemessen sein: Fragen und Aufgaben dürfen nicht langweilig aber auch nicht unlösbar sein. Egal welches Lernziel man erreichen will, der Schüler muss bei dem Verstehen, Wissen und Können abgeholt werden, bei dem er steht.
  • Der Schüler muss respektiert und ernst genommen werden. Er muss seinem Lehrer vertrauen können. Nur dann kann er die Hemmschwelle des Fragens überwinden.
  • Es muss Erfolgserlebnisse geben. Lernfortschritt muss erkennbar und mit Lob honoriert werden.
  • ...

Mein ursprüngliches Ziel dieses Aufsatzes, potentiellen Nachhilfeschülern klar zu machen, was ein Lehrer leisten kann und was nicht, habe ich bisher vielleicht verfehlt, weil ich abstrakt und abgehoben formuliert, den Schüler nicht an seiner Position abgeholt habe. Deswegen hier das oben Gesagte noch einmal in knapper und deutlicherer Form:

Die schlechte Nachricht ist: Den Aufwand des Lernens, die Arbeit, kann euch keiner abnehmen! Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Ein begabter und engagierter Lehrer kann dafür sorgen, dass ihr die Arbeit nicht als solche empfindet sondern dass euch das Lernen Spaß macht, weil ihr versteht, wozu ihr das Gelernte brauchen könnt, und weil ihr Erfolge seht.

In diesem Sinne: Packt es an!


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Kommentare, die ich zu diesem Artikel erhalten habe:

Jürgen von der Lieth hat mich freundlicherweise auf einen Fehler in der Mitternachtsformel aufmerksam gemacht, den ich selbstverständlich gleich korrigiert habe:
"Zufällig stoße ich auf Ihre Seite und habe einiges mit Interesse gelesen. Zu dem Artikel "Lernen und Lehren" hat sich ein Fehler eingeschlichen. Wenn man denn die Sache wirklich anpacken will, muss die Lösungsformel für quadratische Gleichungen korrekt umgestellt werden: Unter dem Wurzelzeichen darf nicht a² sondern b² stehen! Dieser Schritt gehört meiner Meinung nach in Ihrem Artikel zum Punkt "Verstehen"; wenn man nämlich verstanden hat, wie Gleichungen umgeformt werden, braucht man sich nicht so sehr mit auswemdig Gelerntem zu belasten."


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