Meine Meinung!
 

 Minarette und Volksabstimmungen

01. Dezember 2009

siehe auch:
Demokratie
Gott-Religion-Kirche-Glaube

Am 29.11.2009 hat sich eine deutliche Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung in einer Volksabstimmung dafür ausgesprochen, den Bau von Minaretten, also Kirchtürmen von Moscheen von denen aus der Muezzin die Gläubigen zum Gebet ruft, künftig zu verbieten.

Es ist schon viel darüber geredet und geschrieben worden. Der Tenor war immer, durch ein solches Verbot werde die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit verletzt.
Ich möchte folgende weitere, vielleicht etwas provozierende aber durchaus ernst gemeinte Stellungnahme hinzufügen:

Das Minarettverbot verletzt die Religionsfreiheit nicht, aber es verletzt den Gleichheitsgrundsatz!

Das soll heißen: Nicht nur der Ruf des Muezzins sollte unterbunden werden sondern auch das Geläut christlicher Kirchenglocken und alle anderen Beeinträchtigungen Dritter. Im Informationszeitalter, in dem jeder Gläubige Zugang zu Internet, Radio, Fernsehen und Zeitungen hat und in dem außerdem hochpräzise, am Handgelenk zu tragende Zeitmesser mit Alarmfunktion für einen Spottpreis zu haben sind, sind Kirchtürme - egal ob sie nun ein Kreuz, einen Halbmond oder ein anderes Symbol tragen - ein Anachronismus.

Die Gläubigen zum Gebet, zur Messe oder einer anderen religiösen Veranstaltung zu rufen, kann kein so wesentlicher Bestandteil einer Religion sein, dass dadurch die Religionsfreiheit gefährdet würde. Jeder Gläubige ist heute auf andere Weise in der Lage, die religiösen Termine seiner Glaubensgemeinschaft einzuhalten.

Diese Tatsache wiegt umso schwerer, als die Nichtmitglieder der Religionsgemeinschaft, die den traditionellen Lärm veranstaltet, durch solche Aktionen in ihren Grundrechten beeinträchtigt werden: Die vielen Atheisten - bekennende wie faktische (also solche, die nur noch nominell einer Religionsgemeinschaft angehören), die Agnostiker und die Mitglieder der jeweils anderen Religionen werden durch diesen Lärm belästigt, der nicht einmal mehr durch einen sinnvollen Zweck gerechtfertigt ist.

Man stelle sich vor, der örtliche Hundezüchterverein führe sonntags morgens mit einem Lautsprecherwagen, aus dem lautes Hundegebell klingt, durch die Straßen der Stadt und riefe auf diese Weise seine Mitglieder dazu auf, mit ihren Hunden Gassi zu gehen oder auf dem Trainingsplatz zu erscheinen. Das klingt absurd, ich weiß. Genauso absurd aber ist morgendliches Glockenläuten oder regelmäßiger Muezzingesang.

Es ist auch keine Rechtfertigung, dass Glockengeläut und Muezzingesang eine jahrhundertealte Tradition sind. Wenn die Begründung für eine Vorgehensweise weggefallen ist, ist auch ihre Rechtfertigung weggefallen, egal ob und wie lange man das "schon immer so gemacht hat". Oder sind die Kirchen wie die Hausfrau aus dem Hunsrück, die eines Tages von ihrer Tochter gefragt wird, warum sie die Bratwürste immer halbiere.

Noch etwas hat sich gegenüber früher verändert: Der Zweck der Kirchtürme diente früher einer überwältigenden Mehrheit. Anno siebzehnhundertschießmichtot in einem kleinen bayrischen Bergdorf gingen alle Einwohner sonntags morgens in die Kirche. Also war das Glockenläuten nicht nur eine Hilfe, weil es keine Handgelenkwecker gab, sondern es gab auch (fast) niemanden, der nicht zur angesprochenen Religionsgemeinschaft gehörte.

Das ist heute anders. Welcher Anteil der Bewohner im Einzugsgebiet einer Gläubige-zum-Gebet-ruf-Schallquelle wird denn davon angesprochen? Sicherlich keine Mehrheit mehr! Zum einen, weil die Gläubigen die religiösen Termine heute nicht mehr so eng sehen wie früher, zum anderen, weil sich die Zusammensetzung unserer Gesellschaft verändert hat; es gibt mehr Atheisten und Agnostiker und mehr Angehörige anderer Religionsgemeinschaften als früher; aber alle leben in der selben weltlichen Gemeinde.

Darin vermute ich den eigentlichen Grund für das katastrophale Abstimmungsergebnis in der Schweiz: Es ist der Versuch der Einzelpersonen, sich gegen den Wandel der Gesellschaftsstruktur zu wehren. Dabei werden sogar die so hoch gehaltenen Werte von Verfassungsrang wie Religionsfreiheit und Gleichheitsgrundsatz mit Füßen getreten. "Alle Menschen sind gleich. Bitte keine Ausländer in meiner Nachbarschaft!"

Religion wird missbraucht, um Fremdenfeindlichkeit auszuleben.

Wir können uns gegen den gesellschaftlichen Wandel nicht wehren, und wir sollten es auch nicht versuchen, denn es macht ihn nur schwieriger.

Wer weltweiten Handel will (und davon profitieren wir Europäer überdurchschnittlich!), wer freizügig reisen will, wer die Menschenrechte überall geachtet sehen will - und dazu sollten sich alle Mitglieder aller Weltreligionen verpflichtet sehen, denn sonst sind sie ohnehin unglaubwürdig - der muss sich damit abfinden, dass die hundertprozentig katholische (oder protestantische oder baptistische oder oder oder) Gemeinde, die sich sonntags morgens mit Glockengeläut zum Gottesdienst rufen lässt, ein genau solcher Anachronismus ist wie ihr Kirchturm.

Jede Gemeinschaft braucht ihre Regeln, Prinzipien und Gewohnheiten, ihre "Kultur". Das Durchmischen der Gemeinschaften - die Globalisierung - verlangt Anpassung und Integration. Und Integration ist ein zweiseitiger Prozess: Sowohl die Fremden als auch die Alteingesessenen müssen die neue Gemeinschaft gestalten. In vielen Bereichen klappt das auch ganz gut, man denke nur an die internationale Küche in Deutschland. Niemand hat ein Problem damit, italienisch, türkisch, griechisch, vietnamesisch oder chinesisch essen zu gehen.

Eine heterogene Gruppe zu einer funktionierenden Gemeinschaft, zu einer (weltlichen) Gemeinde, zu einer Gesellschaft zu machen, funktioniert dann am besten, wenn die Mitglieder sich auf ihre Gemeinsamkeiten konzentrieren und die Unterschiede zwar zeigen aber nicht hervorheben.

Ein Beispiel: Gläubige Moslems durch einen für westliche Ohren "schrägen" Gesang zum Gebet aufzurufen, erzeugt bei den anderen Mitgliedern der Gemeinde das Gefühl, vereinnahmt zu werden. Sie können sich der als solchen empfundenen Belästigung durch die fremde Religion nicht entziehen. Sieht man hingegen einen Nachbarn, von dem man bisher vielleicht nicht einmal wusste, dass er Moslem ist, still und leise seinen Gebetsteppich ausrollen und seine religiösen Pflichten verrichten, macht es einen vielleicht sogar neugierig. Man hat die Chance sich freiwillig mit der fremden Religion auseinanderzusetzen - oder es bleiben zu lassen.
Das Ganze gilt genauso für andere Religionsgemeinschaften.

Natürlich gibt es darüber hinaus Werte, die auch im Rahmen eines Integrationsprozesses nicht verändert werden dürfen. Das sind genau die, die in unserer Verfassung verankert sind. Diese Grundrechte und die staatsrechtliche Ordnung stehen nicht zur Disposition.

Manche Verteidiger des schweizerischen Volksentscheids führen ins Feld, dass es in islamischen Staaten schließlich auch nicht erlaubt sei, christliche Kirchen zu bauen.
Das mag richtig sein, trotzdem hat es nichts mit der Frage zu tun, ob Moslems bei uns ein Minarett bauen dürfen. Unsere Verfassung beinhaltet keinen Grundsatz "Wie du mir so ich dir". Einziger Maßstab für unser Denken und Handeln ist unser eigener: Unsere Verfassung und unsere Gesetze.

Religionen waren und sind noch heute immer wieder Anlass oder Vorwand für Gewalt, Unterdrückung und Krieg - egal wie sehr diese Mittel im Widerspruch zu den Aussagen dieser Religionen standen bzw. stehen.
Ziel staatlicher, weltlicher Gewalt muss es deshalb sein, den freien Glauben des Einzelnen zu garantieren und gleichzeitig jede Fanatisierung und Abgrenzung zu unterbinden.
Dazu gehört auch, den Anspruch mancher Religion, den einzig wahren Glauben zu verbreiten, und die daraus abgeleitete aktive Missionierung so zu begrenzen, dass sie die Freiheit des Einzelnen nicht gefährdet.

Religion ist freiwillige Gemeinschaft, nicht Gruppenzwang.

Religion ist Glaube, nicht Macht.

Mir ist klar, dass mein Ansatz wenig Fürsprecher finden wird, denn in der Realität stimmt der vorstehende Satz nicht; Religion ist zumindest mit Machtausübung verbunden und die Mächtigen des Staates werden sich nicht gegen die Mächtigen der Kirchen durchsetzen können (und es auch gar nicht erst versuchen), egal wie logisch und richtig vorstehende Gedanken sein mögen.

Nach meinem Idealbild ist Religionsfreiheit ein hoch einzuschätzendes Menschenrecht. Wie jedes andere Recht endet es dort, wo es die Rechte anderer Menschen beschneidet. Es möge also jeder seine Religion ausleben, Christen wie Moslems wie alle anderen - im Stillen, in Gemeinschaft mit seinen Glaubensgenossen, ohne andere Menschen unnötig zu belästigen. Jeder sei offen für die Neugier und die Fragen anders gesinnter; nur so lässt sich das erforderliche Vertrauen schaffen.

Ein noch höher einzuschätzendes Menschenrecht ist das Gleichheitsgebot. Der einen Religionsgemeinschaft Dinge zu verbieten, die der anderen in vergleichbarer Weise erlaubt sind, ist für mich absolut nicht zu tolerieren. Deswegen ärgere ich mich sehr darüber, dass ein solcher Volksentscheid in einer modernen europäischen Gesellschaft möglich ist.

Dieser Volksentscheid führt deshalb auch unabhängig von seinem konkreten Inhalt unmittelbar zur Frage nach Sinn oder Unsinn solch direkter Demokratie. Auch in Deutschland wird in letzter Zeit ja immer häufiger und immer lauter nach mehr Möglichkeiten zur direkten Einflussnahme des Volkes auf die Politik gerufen. Auf die durchaus nachvollziehbaren Gründe, die ich dahinter vermute, will ich hier gar nicht eingehen. Ich will nur am Beispiel des schweizerischen Volksentscheids zu Minaretten begründen, warum ich dieses Demokratie-Organ für absolut untauglich halte:

Es beginnt damit, dass ein Volksentscheid sich schon aus rein praktischen Gründen auf eine einfache, in aller Regel mit "Ja" oder "Nein" zu beantwortende Frage beschränken muss. Diese Vereinfachung kann eine Verfälschung des eigentlichen Problems bewirken. Wie die Frage formuliert ist, hat entscheidenden Einfluss auf den Ausgang und die Bedeutung der Abstimmung. Die Formulierung selbst kann aber nicht Gegenstand der Abstimmung sein.

Vielleicht wird diese Kritik am besten deutlich, wenn Sie sich fragen, wie ich mit meiner oben beschriebenen Meinung hätte abstimmen sollen: Ich bin dagegen, dass irgendeine Religionsgemeinschaft Außenstehende belästigt (hier z.B. durch den Aufruf zum Gebet vom Minarett aus). Demnach hätte ich mit "Ja" (= Verbot von Minaretten) stimmen müssen.
Mir ist außerdem die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes sehr wichtig. Da die Frage nur auf islamische Kirchen zielte, hätte ich also mit "Nein" stimmen müssen.

Vor die Wahl gestellt hätte ich tatsächlich letzteres getan. Das hätte mir aber mitnichten das Gefühl gegeben, die Politik meines Landes aktiv mitgestalten zu können, im Gegenteil. Ich hätte mich getäuscht gefühlt, weil man mir eine Gestaltungsmöglichkeit suggeriert, diese dann aber so verwendet, dass keine der angebotenen Alternativen für mich akzeptabel ist. "Du darfst wählen: Möchtest du unter der Guillotine oder am Strick sterben?" ist (etwas überzogen) eine ähnliche Fragestellung.

Ein weiteres Problem der Fragestellung ist, dass sie gezielt so auf Mehrheiten formuliert werden kann, dass sie diese Mehrheit auch findet, die Minderheit aber entgegen des Gleichberechtigungsgrundsatzes keine Chance hat, sich gegen die Maßnahme, über die in der Frage zu ihrem Nachteil abgestimmt wird, zur Wehr zu setzen.

Moslems sind in der Schweiz sicherlich eine Minderheit. Woher hätten sie die zahlenmäßige Unterstützung bei dieser Volksabstimmung nehmen sollen?

Wenn ich in einer Volksabstimmung die Frage stelle, ob 10% der Bestverdienenden Steuererleichterungen für 90% der weniger verdienenden Bürger finanzieren sollen, finde ich dafür mit Sicherheit eine Zustimmung von knapp 90%.

Der dritte Kritikpunkt an Volksabstimmungen ist der, dass Demokratie an sich - die indirekte ebenso wie die direkte - von den Wählern verlangt, sich aktiv eine Meinung zu bilden (vgl. Demokratie). Das aber tun die wenigsten (mich persönlich eingeschlossen) in ausreichendem Maße, weil es Aufwand erfordert. Ausreichend bedeutet in diesem Zusammenhang, dass alle Konsequenzen einer Wahlentscheidung bedacht und bewusst getragen werden. Man muss bei einer Wahl also nicht Einzelaspekte beachten sondern den Gesamtzusammenhang. Das ist sehr schwierig. Eine Volksabstimmung reduziert aber die Wahl gerade auf den Einzelaspekt. So einfach wie die Abstimmungsfrage ist der Gesamtzusammenhang in der Regel jedoch nicht.

Auch diese These will ich wieder am Beispiel der schweizerischen Minarettabstimmung belegen: Es beginnt damit, dass die Mehrheit der Wähler ihre eigenen Verfassungsgrundsätze nicht beachtet hat. Ich glaube nicht, dass sich die selbe Mehrheit gegen Minarette gefunden hätte, wenn jedem Wähler klar gewesen oder klar gemacht worden wäre, dass er dafür die Garantie der Gleichbehandlung auch mit Blick auf seine eigene Person hätte aufgeben müssen. Des weiteren war mit Sicherheit den wenigsten Wählern bewusst, welche Folgen ihr Votum für das schweizerische Ansehen im Ausland hat und welche z.B. wirtschaftlichen Konsequenzen damit verbunden sein können. Vielleicht hatten auch viele die Einstellung: "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!" Zwar demütigen wir die Moslems in unserem Land, aber die arabischen Scheichs dürfen ihr Geld gerne weiterhin auf unsere Banken tragen.

Ist das verantwortungsvolles Handeln eines Souveräns, der das Volk in einer Demokratie ja sein soll?

Viele der nur mittelbar mit einem Votum verbundenen Konsequenzen kann die Mehrheit der Wähler auch nicht sehen. Dazu ist unsere Welt viel zu komplex.

In der repräsentativen Demokratie arbeiten die Volksvertreter hauptberuflich und haben Gelegenheit und Mittel sich eine Meinung im Gesamtzusammenhang zu bilden. Sie können Experten befragen und eine mehrheitsfähige komplexe Antwort auf ein komplexes Problem formulieren.

Davon unberührt bleiben die Nachteile und Probleme der repräsentativen Demokratie, die ich im Aufsatz über Demokratie beschrieben habe. Volksentscheide sind aus meiner Sicht aber keine Lösung; sie vergrößern das Problem.

Zusammenfassung:

  • Kirchtürme und Minarette sind ein Anachronismus. Sie sind heute für die Ausübung von Religion nicht mehr erforderlich.
  • Belästigungen anderer durch religiöse Handlungen wie z.B. Glockenläuten, Muezzinrufen u.Ä. oder gar Missionierung müssen vermieden werden. Da diese Handlungen aus o.g. Gründen für das Ausüben der Religion nicht erforderlich sind, ist dies keine Beschneidung der Religionsfreiheit.
  • Globalisierung und Zunahme der Heterogenität unserer (weltlichen) Gemeinden sind unaufhaltsam. Entscheidend ist der richtige Umgang damit: Integration von beiden Seiten.
  • Staatliche Gewalt muss den Missbrauch von Religionen als Vorwand für Gewalt und Unterdrückung unterbinden.
  • Religionsfreiheit meint die Freiheit des Einzelnen und nicht die Machtausübung der Institution.
  • Regeln und Gesetze in islamischen Staaten sind für uns kein Maßstab. Bei uns gelten die Grundsätze unserer Verfassung, u.a. Religionsfreiheit und Gleichberechtigung.
  • Volksentscheide sind ein untaugliches Mittel der Demokratie, weil die Fragestellungen verfälschend vereinfacht werden müssen und weil den Wählern die Möglichkeit fehlt, eine hinreichend spezifische Lösung für komplexe Probleme im staats- und weltpolitischen Gesamtzusammenhang zu finden und zu äußern.

Nachtrag

09.05.2010

Die neue niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan hat genau Recht gehabt:

Focus-Artikel über Aygül Özkan

Schade, dass es ihr nicht möglich war, ihre Position durchzusetzen oder zumindest eine tolerante Diskussion darüber zuzulassen.


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